Ein Nachruf

Dr. Otto E. Selzer
21. 11. 1932 – 7. 12. 2005



Das schönste Denkmal,
das ein Mensch bekommen kann,
steht in den Herzen der Mitmenschen.
(Albert Schweitzer)


 Es war so schön, hat er gesagt. Eine Wiese im hellen Licht am Ende des Tunnels, wo alles unbeschwert ist und alles gut. Papa hat schon ein paar Jahre vor seinem Tod erfahren, wie sich Sterben anfühlt, und er hatte keine Angst davor. Damals war es noch zu früh. Er kam zurück auf diese Welt und schaffte mit viel Geduld und Übung noch ein bisschen Lebensqualität, ein bisschen sich bewegen können für seine letzten Jahre. Und fuhr mit seinem blauen Scooter am Fahrradweg von Schallerbach bis ganz nach Haus und durch die Stadt und gern spazieren, wenn die Sonne schien. Kinder schauten ihm oft nach auf seinem blitzblanken Gefährt in metallisé. Mein Cabrio, sagte er manchmal.

Mein Vater hatte was übrig für Autos. Manche kannte er besser, als ihm lieb war. Eines der ersten Gefährte war der Muckile, Nomen est Omen – und der junge Otto kannte viele Werkstätten zwischen Grieskirchen und Rom. Auf der Hochzeitsreise von Tollet nach Italien übernachtete das junge Paar bereits in Gaspoltshofen, um die Hochzeitskutsche wieder flott zu kriegen. Oft haben sie erzählt, wie schon auf vielen frühen Fahrten meine Mutter dann und wann im Straßengraben saß und für die nächste Prüfung lernte, während er am Auto schraubte. Er konnte es auch, er kannte sich aus, er wollte immer wissen, wie was funktioniert und warum etwas geschieht, ging stets den Dingen auf den Grund, auch in der Medizin.

Sein Beruf entsprach ihm voll und ganz, er war sehr gerne Arzt. Mama scherzte oft, eigentlich dürfte er gar nichts verdienen für eine Arbeit, in der er so aufgeht, dass es gar keine Arbeit sein kann. Dabei wollte er ursprünglich Theologie studieren. Aber in der Kirche ist es oft kalt, und Krankenhäuser sind immer gut geheizt, witzelte er, der in seiner Jugend so viel fror. Nach einem ganz kurzen Abstecher in die Atomphysik kam er also dann zur Medizin. Und die studierte er gründlich. 34 Semester lang. „Er studiert nicht, er prüft die Lehrmeinungen“, hänselten Freunde ihn liebevoll, und Mama meinte, es reicht ihm nicht, wenn er eine Prüfung mit Auszeichnung besteht, es muss sich schon der Professor für das interessante Gespräch bedanken, damit er zufrieden ist. Sein Studium finanzierte er mit den unterschiedlichsten Jobs. Er war Zeitungsverkäufer, Mietwagenchauffeur und Croupier, in den höheren Semestern gab er seine Vorlesungsmitschriften als medizinische Scripten heraus und verkaufte sie, es gab damals noch wenige Lehrbücher. In einem Sommer fuhr er mit einem Freund per Anhalter nach Schweden, um Geld zu verdienen. Weil die beiden keins hatten, übernachteten sie unterwegs an der Autobahn im Freien. Einmal regnete es dabei. Reich wurden sie auch in Schweden nicht, arbeiteten als Tellerwäscher in Malmö. Aber es muss ein lustiger Sommer gewesen sein, was man so hörte.

Papa liebte die Universität. Schon viele Jahre, bevor ich selber darin saß in unseren Pausen war mir das Buffet im Arkadenhof ein Begriff, weil er so gern davon erzählte. Wahrscheinlich sah es damals schon genauso aus wie heute – manches überdauert die Zeiten. Papa kannte alles und jeden an der Universität und alle kannten ihn. Er wohnte nachgerade dort. Der Lesesaal in der Bibliothek war sein Zuhause, nicht zuletzt, weil er damals noch kein gemütliches eigenes Zuhause hatte, und die Stiegenaufgänge der Aula waren seine Bühne, wenn er mit den Stöckelschuhen einer Kollegin an den Händen im Handstand die Stufen rauf und runter ging, ein Spaßvogel. Ein altes Foto zeigt ihn auch im Handstand – irgendwo am Land auf einem Hausdach auf dem Rauchfang.

Sein Lieblingssport war Schifahren, und er hatte immer möglichst gute Schi und Schuhe. Für mehr reichte dann das Geld nicht mehr, und er fuhr in Hut und Mantel. Wer über seinen Aufzug lachte, lachte nicht mehr, als er ihn elegant über die Hänge abwärts gleiten sah. Einmal auf dem Hochschwab glitt er allerdings beinah in sein Verderben. In dichten Nebel hüllte sich der Gipfel und nahm jede Sicht. Die kam erst wieder, als er aus den Wolken fiel, parallel zur Nordwand abwärts, und im freien Fall. Er erwachte dann im Leichensack, mit einem gebrochenen Bein, doch sonst recht lebendig, las er im Krankenhaus von seinem vermeintlichen Tod in der Zeitung. Er war der erste, der den Sturz über die Hochschwab-Nordwand überlebt hat.

Mein Vater hatte ein bewegtes und nicht immer leichtes Leben. Er kannte Krieg und Nachkriegszeit, der Einsatz mit der Panzerfaust blieb ihm als Zwölfjährigen nur knapp erspart, ausgebildet hat man ihn noch dafür. Und dann kam das Chaos. Mit seinem wenig älteren Bruder versteckte sich im Wald vor Bomben und ging zu Fuß von St. Pölten bis in die Steiermark. Die Wirren der Geschichte nagten schon früh an seiner Gesundheit. Das Leben hat ihm viel abverlangt.
In St. Pölten, Herrengasse 7, hat seine Mutter den kleinen Otto manchmal ausgesperrt. Er kletterte beim Fenster wieder herein, musste zu diesem Zweck erst die Fassade erklimmen, die Wohnung war im 1. Stock.

Mein Vater kannte wenig unlösbare Probleme. Er forschte unermüdlich nach deren Ursache und stellte so lange Fragen, bis er die Antwort wusste. Und dann wollte er immer das Beste. Und was das Beste ist, das bestimmst du, sagten wir manchmal.
Das Beste waren etwa blank geputzte Schuhe und penible Ordnung – ich bin nur zu faul zum Suchen, hieß es gern dabei, und sauber musste es immer sein und bleiben. Wenn man wenig Mist macht, muss man auch wenig wegräumen, so die Devise der Effizienz im Haushalt. Schau, was liegt denn dort auf dem Teppich, ist das ein Wuzerl oder ein Bröserl, wo kommt denn das her, wie kommt denn das da hin? Jede Woche wurde ein sauberes Haus geputzt.

Wenn die Vorhänge danach eine Spur anders hingen, wurden sie zurecht gerückt. Ich bin ein Ästhet, sagte Papa gerne. Und harmoniebedürftig. Harmonie nicht nur fürs Auge, sondern auch in der Familie, in der Liebe. Als Mama starb, brach für Papa eine Welt zusammen. Es war, als hätte man ihn plötzlich entwurzelt und als wäre jetzt alles zu Ende und grau und fade und leblos und sinnlos. Dann kamen doch noch neue Begegnungen, schöne Momente, tiefe Freundschaften, er öffnete sich für andere und wurde liebevoll umsorgt von einer guten Freundin, die ihn liebte. Je älter er wurde, desto mehr zeigte er seine Gefühle, er nannte das manchmal Affektinkontinenz, beschrieb es als Krankheitsbild nach der ersten Serie von Schlaganfällen vor ein paar Jahren, aber es war nicht nur das. Er war weicher geworden, toleranter. Wir waren uns nie zuvor so nahe wie in dieser Zeit. Er dachte viel nach in diesen Monaten über sein Leben, über die Vergangenheit, über Schönes und Schreckliches, und auch über die Zeit, in der wir leben. Man konnte mit ihm über alles diskutieren, besonders, wenn man einigermaßen seiner Meinung war – was in letzter Zeit immer häufiger vorkam. Er knüpfte Kontakte neu, die lange brach lagen, das Telefon, das früher nur kurzen Mitteilungen dienen durfte (in den ersten Jahren seiner Ordinationstätigkeit präsentierte er dem Finanzamt eine Telefonrechnung mit Null Schilling Gesprächsgebühr), das Telefon diente nun langen Gesprächen mit alten Freunden und mit der Familie. Papa war wieder fast so gesellig wie in seiner glücklichen Zeit an der Wiener Universität. Aber er war auch müde. Er schlief am Abend oft beim Fernsehen ein und verbrachte die halbe Nacht im Wohnzimmer. Früher wäre das undenkbar gewesen. Und als ihn dann wieder Schlaganfälle trafen, hatte er genug. Keine Lust und keine Kraft mehr zu kämpfen und keine Aussicht auf Heilung. Das Leben danach hätte er nicht mehr gewollt. Und er quälte sich auch nicht damit. Uns bedeutete er: It’s time to say goodbye. Wir hatten ein paar Tage Zeit, uns zu verabschieden, dann schlief er friedlich ein. Am Ende des Tunnels wartet das Licht. Und die Wiese im Sonnenschein und alles ist gut. Vielleicht liegt auch Schnee, und er schnallt sich soeben die Schi an.



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