Der alte Mann und das Dorf

April 2010 

Eine Übertragung ins Ungarische

 

Der Text entstand in einem Seminar der Schule für Dichtung und der PH Eisenstadt nach einem Impulstext von Peter Rosei:

Peter Rosei: Das große Töten. Roman.Residenz Verlag, St. Pölten-Wien 2009

 

 Das Dorf liegt zwischen Feldern und Wiesen in der Ebene, an seinem Rande das Schloss der Grafen Ciráky. Man darf sich kein prächtiges prunkvolles Palais vorstellen, bloß ein kleines Landschlösschen, heute Entziehungsanstalt für Alkoholiker, die therapiert werden sollen durch Gartenarbeit in einem Park, in dem sich zuweilen Frischvermählte fotografieren lassen zwischen Kastanienbäumen und Agaven. Die Cirákys haben Pflanzen aus aller Welt gesammelt.

Die Häuser des Dorfes stehen an einigen wenigen, zumeist geraden Straßen, gegenüber vom Bürgermeisteramt ein hölzernes Glockengestell. Das Dorf hat statt der Kirche eine Schlosskapelle ohne Turm. Das samstägliche Läuten der Glocke in ihrem Verschlag hört man gerade bis zum Wirtshaus eine halbe Gasse weiter, wo die alten Männer sitzen und sinnieren, jeder hübsch für sich.

Vom Dorf weg kann man entweder die Straße in eines der Nachbardörfer nehmen, oder man geht den von saftigen Wiesen gesäumten Feldweg wenige Kilometer bis zur Bedarfshaltestelle der Bahn, die nahe den Fischteichen liegt, und die man von der übrigen Umgebung nur an ein paar Laternenpfählen unterscheiden kann, und daran, dass jemand an einen dieser Pfähle ein Schild mit dem Namen des Dorfes geschraubt hat und kürzlich auch eines mit einem Fahrplan. Im Frühsommer wachsen auf den letzten Metern des Weges, der zur Zugstation führt, Brennnesseln, Mohnblumen, Schafgarbe, Traubenkraut. Die heiße, um diese Jahreszeit oft noch recht feuchte Luft durchziehen fröhlich die ersten Gelsenschwärme und ein paar Bienen, die spät blühendes Unkraut befruchten.

Es gibt eine Hauptstraße im Dorf, rechtwinkelig zu ihr die zwei wichtigsten Nebenstraßen. Immer rechts an den Grundstückskanten die kleinen Häuser mit Betonplattenzäunen und rostigen Eisentoren.

Das Wirtshaus steht an der Kreuzung. Vor dem Haus Tisch und Bank aus grobem, dunklen Holz, aber die Gäste sitzen hier nicht. Sie stehen drinnen schweigend an der Bar oder starren in einem dunklen Winkel vor sich hin. Am ersten Tisch neben dem Eingang sitzt ein alter Mann, auf dem Platz neben ihm das weiße Kunststoffgeschirr mit der Anstaltskost. Jeden Tag radelt der Alte die Straße entlang zum Schloss und den Teil des Weges, der bis zum Wirtshaus führt, auch wieder zurück. Dort lässt er sich dann die Zeit durch die Kehle rinnen und schaut durch das Fliegengitter an der Tür hinaus in die Welt.

Die Fenster sind immer geschlossen. In vielen Häusern auch die Vorhänge. Rollläden. Fensterläden. Einer, der nur auf der Durchreise ist, könnte meinen, es gäbe keine Menschen im Dorf. Erst wenn er bleiben und sich umschauen will, dann stehen auf einmal an jeder Ecke Leute und bereden mit ihren Nachbarn allerlei Angelegenheiten so dringlicher Natur, dass sie den Fremden gar nicht zu bemerken scheinen. Wenn er dann wieder weiterfährt, sind sie so schnell verschwunden, wie sie kamen. Und am Abend weiß das ganze Dorf, dass einer da war, der nicht von hier ist.

Man sieht weit im flachen Land.

Der höchste Punkt des Dorfes ist eine Baumkrone. Der Maulbeerbaum im Garten des alten Mannes überragt alles ringsum. Den windschiefen Rauchfang, den Giebel vom esterházygelben Nachbarhaus, den Akazienpfahl des Ziehbrunnens. Wenn der Schatten der oberen Äste schon bis zum Schweinestall nach hinten reicht, dann kommt der alte Mann nach Hause. Sein Fahrrad scheppert ans Gartentor und er nestelt nach der Schnur mit dem Schlüssel und presst Laute hervor, die entfernt an ungarische Flüche erinnern, bei denen Übersetzer rot werden würden wie der Sonnenuntergang hinter den Feldern im Westen.

Im Hof erwartungsvoll bellend und wedelnd die kleine schwarze Hundedame, Abkömmling eines Dackels und vieler Unbekannten. Ihr sind die Tritte gegen das Blech, die Faust am widerspenstigen Schloss, die Wortfetzen und endlich das Quietschen der Angeln Signale, dass es bald Futter gibt. Suppe, Nudeln, Dosenerbsen und ein bisschen Fleisch aus kleinen weißen Plastiktöpfen. Manchmal auch etwas aus der Mehlspeisküche.

Der Alte wankt in den Garten und neigt sich im Takt seiner Schritte vor und zurück und zuweilen zur Seite, schwer auf sein klappriges Fahrrad gestützt. Der Hund läuft um das Herrl herum und springt an den fleckigen Hosenbeinen hinauf, den ganzen Weg am Haus entlang bis zu den Hasenställen unter dem Maulbeerbaum, der hier schon wuchs, als der abgedankte Kaiser Karl von Österreich in seiner Schweizer Junkers auf dem Dorfacker landete, um mit Gottes und der Grafen Hilfe wieder König von Ungarn zu werden.

Der alte Mann weiß nichts von gestern, und wird morgen nichts von heute wissen. Nicht, dass er stolperte, als er sich zum Plumpsklo schleppte. Nicht, dass er beim Scheißen tiefe Schreie von sich gab. Nicht, dass er seine Hose dabei angelassen hatte. Nicht, dass er dann die Axt geschwungen hat und nicht verstanden, warum das Brennholz heut so widerspenstig war.

Nichts davon.

Der alte Mann wird morgen nur noch ahnen, dass er irgendwann im Schutz der Dunkelheit vergessen hat, dass er alleine ist.

Und wenn die Sonne wieder aufgeht, wird er auf der Hausbank sitzen, mit schwerem Kopf und nicht verstehen, warum am Hackstock halbe Hasen liegen, und wo das rote Blut herkommt, und der weiße Darm im grünen Gras. Ein unbestimmtes Grauen wird ihn fassen beim Anblick seiner Landesfarben.

Dahin ist alles, was vom Bruder ihm geblieben ist. Seine zwei letzten Hasen hat er mittendurch gespalten, Kopf und Herz links von der Axt gefallen, Bauch und Hinterläufe rechts. Diese Tiere wird keiner mehr kaufen. Über den Kadavern schwirren Fliegen aus dem Schweinestall.

Und der Bruder hat noch immer keinen Grabstein. Dafür fehlt das Geld.

Aber für ein Gläschen reicht es noch.

Bald wird der Alte wieder die Straße entlang bis zum Schloss hin radeln, und den Teil des Weges, der bis zum Wirtshaus führt, auch wieder zurück.

Im Garten wird derweil das Blut der Hasen trocknen.

Wie im August der Schlamm an den Ufern des Baches, der sich durch den Schlosspark schlängelt und jenseits der Wiesen und Felder durch die Ebene, in der unser Dorf liegt, friedlich und still.

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