Putin 2000Politikverdrossenheitund Desinteresseam Vorabend der WahlenMärz 2000 |
In Ulan-Ude ist es kaum zu glauben, dass demnächst Präsidentschaftswahlen stattfinden. Die Straßen sind frei von Wahlplakaten, Rundfunk und Presse berichten nur sporadisch bis gar nicht über die verschiedenen Kandidaten. Es scheint keinen öffentlichen Wahlkampf zu geben, hier im südostsibirischen Burjatien. Bis nach Moskau ist es weit, und die Menschen haben andere Sorgen. Die Bevölkerung zeigt sich sowohl nicht zuletzt deshalb so desinteressiert an den politischen Möglichkeiten, weil ohnehin jeder zu wissen glaubt, wie der nächste Präsident Russlands heißen wird: Wladimir Putin. Den meisten ist das eigentlich ganz recht: er trinkt nicht und wirkt seriös, man schätzt sein ernstes Gehabe im Fernsehen, er hat öffentliche Auftritte en masse – ganz im Gegensatz zu seinen Konkurrenten. Deshalb ist auch so gut wie niemand imstande, die 12 Kandidaten vorrständig aufzuzählen und über ihre Parteien zu sprechen. Es herrscht allerdings sogar Unsicherheit über Putins Parteizugehörigkeit. Bekannt ist seine Person, aber keiner interessiert sich für die Partei hinter ihm. Die grassierende politische Unwissenheit liegt aber nicht nur an Desinteresse und Politikverdrossenheit – es ist tatsächlich nicht einfach, sich Informationen zu beschaffen. Die Zeitungen, die in Ulan-Ude zu kaufen sind, bieten keine umfassende Darstellung der Politlandschaft und enthalten kaum Werbung von Seiten der Kandidaten. Es wäre auch verlorene Liebesmüh, den Wahlkampf über die Zeitungen auszutragen, sie werden wenig gelesen. Man findet sie einerseits teuer, andererseits kaum informativ und nicht glaubwürdig. Ausländische Presse – ja, die wäre interessant, aber die ist in Ulan-Ude nicht verfügbar … Bleibt das Fernsehen als wichtigstes Medium – hier haben alle Kandidaten ihre Auftritte: kostenpflichtige Werbesendungen. Nur Putin tritt – weil amtierender Präsident – täglich gratis auf. Weiters wird über den einen oder anderen Skandal berichtet. Schirinowsky hat es mit Steuerhinterziehungen ebenfalls gratis ins Fernsehen geschafft. Seine Machenschaften hätten ihn allerdings fast die Kandidatur gekostet. Diskussionsrunden mit den oder über die Kandidaten gibt es nicht. Noch nicht. Angeblich überschüttet man das russische Volk immer zwei, drei Tage vor der Wahl mit einer Informationslawine. Es gibt schließlich noch viele unentschlossene Wähler und Wählerinnen und es scheint keineswegs ganz sicher, dass Putin schon in der ersten Runde gewinnt. Grigorij Jawlinskij von der liberalen Partei „Jabloko“ (Apfel) und der Kommunist Michajl Sjuganow werden für ernstzunehmende Konkurrenten gehalten, die es bis in eine Stichwahl schaffen könnten. Putins KGB-Vergangenheit wird meist mit Achselzucken abgetan, es waren doch fast alle russischen Präsidenten irgendwann einmal beim KGB. Die Kontrolle der Internetserver in Russland ist den meisten ebenfalls egal, sie wünschen „viel Vergnügen beim Lesen unserer interessanten Privatmails“. Telefongespräche wurden sowieso immer abgehört, man ist daran gewöhnt. Nur beim Thema Tschetschenien regt sich mancherorts Kritik an Putins Politik. Aber nur die wenigsten sind prinzipiell gegen diesen Krieg. Selbst diejenigen, die morgen schon selbst Kanonenfutter sein könnten, sehen der Sache gelassen ins Auge: „Wenn mein Vaterland es verlangt, dann werde ich eben sterben“, so ein 18-jähriger Student aus Ulan-Ude. Das interessanteste an der Vorwahlzeit ist für viele ist die größere Regelmäßigkeit bei der Auszahlung der Löhne, so sagt man und geht den Tagesgeschäften nach. Löhne zahlen, das ist auch eine Art der Wahlwerbung, und zwar in diesem Fall wieder mal eine für Wladimir Putin. vgl. Die Furche, Nr. 12, 23. März 2000 |